Epilepsie bei Menschen mit geistiger Behinderung
Menschen mit einer geistigen Behinderung sind sehr viel häufiger von einer Epilepsie betroffen als die Gesamtbevölkerung. Die Neurologin Oona Kohnen erläutert die besonderen Herausforderungen in der Diagnostik und Behandlung dieser Patientinnen und Patienten.
Die Prävalenz der Epilepsie ist bei Menschen mit einer geistigen Behinderung mit 22 Prozent1 im Vergleich zur Epilepsieprävalenz von 0,67 Prozent der Gesamtbevölkerung besonders hoch2. Die Häufigkeit des Auftretens einer Epilepsie und die Art der Anfälle korrelieren dabei mit dem Schweregrad der geistigen Behinderung: je schwerer die Intelligenzminderung, desto häufiger besteht eine Epilepsie1 und desto seltener wird Anfallsfreiheit erzielt3. Erschwerend kommen häufig weitere Behinderungen hinzu, beispielsweise sprachliche und motorische Einschränkungen, Sehstörungen sowie psychiatrische Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten.1
Klassifikationen der Epilepsien
Die Internationale Epilepsieliga (ILAE) hat die Häufigkeit von Entwicklungsstörungen, geistiger Behinderung und Epilepsie entsprechend in der Epilepsieklassifikation berücksichtigt: Die epileptische Enzephalopathie, die entwicklungsbedingte Enzephalopathie sowie die entwicklungsbedingte und epileptische Enzephalopathie (developental and epileptic encephalopathy, kurz DEE) wurden als Entitäten definiert. Sie ersetzen den früher häufig und wenig spezifisch eingesetzten Begriff der symptomatisch generalisierten Epilepsie.4
- Bei der epileptischen Enzephalopathie (etwa der hypoxischen Enzephalopathie) bedingt die epileptische Aktivität eine kognitive Beeinträchtigung, die über das Ausmass der Beeinträchtigung durch die zugrundeliegende Pathologie hinausgeht.
- Bei der entwicklungsbedingten und epileptischen Enzephalopathie (DEE) führen sowohl die Entwicklungsstörung als auch die epileptische Aktivität unabhängig voneinander zu einer Beeinträchtigung kognitiver Funktionen. Nicht selten handelt es sich hier um genetische Erkrankungen.
- Bei der entwicklungsbedingten Enzephalopathie trägt die Epilepsie hingegen wenig zur kognitiven Beeinträchtigung bei.
Besonderheiten in der Diagnostik von Epilepsien bei Menschen mit geistiger Behinderung
Auch wenn sich die Abklärung von Epilepsien bei Menschen mit geistiger Behinderung oder Mehrfachbehinderung grundsätzlich nicht von derjenigen bei Menschen ohne Behinderung unterscheidet, müssen doch einige Besonderheiten berücksichtigt werden, um eine adäquate Diagnostik zu ermöglichen.
Hauptbausteine der Diagnostik sind auch bei diesen Patientinnen und Patienten die Anfallsanamnese, die EEG-Untersuchung und die zerebrale Bildgebung. Da bei ihnen die Epilepsie häufig durch eine genetische Veränderung ausgelöst wird, sollte bei unbekannter Ätiologie zusätzlich eine genetische Untersuchung erfolgen.5
Bei Erwachsenen mit einer IQ-Minderung oder Mehrfachbehinderung ist die Diagnostik häufig durch eine reduzierte verbale Kommunikationsfähigkeit erschwert. Das Zusammenwirken mit Angehörigen oder engen Bezugspersonen ist daher essentiell, denn körperliche oder psychische Beschwerden äussern sich oftmals durch Veränderungen im Verhalten, die nur durch längere Beobachtung richtig interpretiert werden können. Komorbide Bewegungs- oder Verhaltensstörungen beispielsweise könnten als Anfälle oder aber Anfälle als Bewegungs- oder Verhaltensstörung fehlinterpretiert werden. In solchen Situationen kann ein Video-EEG bei der Unterscheidung helfen und damit zur korrekten Behandlung führen.
Verhaltensauffälligkeiten und fehlendes Verständnis können Untersuchungen wie das EEG erheblich erschweren. Das Anbringen von Elektroden zur EEG-Ableitung setzt ausreichend und geschultes Personal sowie eine grosszügige Zeitplanung voraus. An unserem Epilepsie-Zentrum besteht daher auch die Möglichkeit eines Rooming-In von Bezugspersonen, um beispielsweise ein mehrtägiges Video-und EEG-Monitoring zu ermöglichen.
Zerebrale Bildgebungen wie MRI benötigen bei Menschen mit Behinderung eine längere Vorbereitung, da diese Untersuchungen teils nur unter Sedierung oder Narkose möglich sind. Wir klären mit Betreuungs- oder Begleitpersonen bereits im Vorfeld den benötigten Aufwand für die Untersuchungen und ggf. einen erforderlichen stationären Aufenthalt ab.
Dieser Aufwand für eine umfassende Diagnostik ist kein Selbstzweck, sondern sehr relevant. Oft ermöglicht erst die korrekte Diagnose des Epilepsiesyndromes eine adäquate Therapie. Dies wird am Beispiel des Dravet-Syndroms deutlich, wo die Mutation des SCN1A-Gens zu einem Funktionsverlust eines Natriumkanals führt. Werden diese Patientinnen und Patienten mit einem Natriumkanalblocker (wie Lamotrigin, Oxcarbazepin) behandelt, kann dies bei ihnen nicht nur die Anfälle, sondern auch die intellektuelle Entwicklung und damit den Grad der Behinderung negativ beeinflussen.6
Behandlungsoptionen der Epilepsie bei Menschen mit geistiger und oder Mehrfachbehinderung
Generell unterscheiden sich die Behandlungsoptionen der Epilepsie bei Menschen mit geistiger und/oder Mehrfachbehinderung nicht von denen anderer Patientinnen und Patienten. Neben der medikamentösen Behandlung kommen ebenso epilepsiechirurgische Eingriffe oder eine ketogene Diät in Betracht. Allerdings ist die Erfolgsrate einer Pharmakotherapie deutlich geringer: Während mit einer medikamentösen Therapie bei 64 Prozent aller Menschen mit Epilepsie eine Anfallsfreiheit erreicht wird7, ist dies bei Menschen mit einer geistigen Behinderung nur bei rund 35 Prozent der Fall3.
Erfreulicherweise wurden in den letzten Jahren zunehmend Therapieformen spezifisch für seltene Epilepsien und DEE entwickelt. Als Beispiele seien das Cannabidiol und Fenfluramin genannt, die spezifisch für das Dravet-Syndrom und das Lennox-Gastaut-Syndrom, das Cannabidiol zusätzlich auch für die Epilepsie bei tuberöser Sklerose, zugelassen sind. Für einzelne Epilepsien, etwa das Dravet-Syndrom, wurden ausserdem internationale Richtlinien zur Therapie veröffentlicht.8 Eine möglichst frühe Syndromdiagnose ermöglicht das rasche Einleiten einer wirksamen Therapie, inklusive der Chance, die kognitive und körperliche Entwicklung positiv zu beeinflussen.
Es gibt diverse therapeutische Herausforderungen in der Behandlung dieser Gruppe von Patientinnen und Patienten:
- So ist für sie die Studienlage zur Verträglichkeit und Wirksamkeit von Präparaten häufig ungenügend, da Menschen mit Behinderung in Studien nur selten berücksichtigt werden.9
- Zudem haben sie oftmals Epilepsiesyndrome, bei denen – trotz optimaler Therapie – nur selten eine vollständige Anfallsfreiheit erreicht wird. Auch wenn eine Anfallsfreiheit bei allen Patientinnen und Patienten angestrebt werden sollte, kann es in diesen Situationen sinnvoll sein, andere Ziele zu setzen. Im Vordergrund steht dann die Verbesserung von Lebensqualität und die Ermöglichung von Teilhabe. Dies kann zum einen durch eine Reduktion der besonders behindernden Anfälle (wie Sturzanfälle oder tonisch-klonische Anfälle) erfolgen. Zum anderen aber auch durch eine Reduktion von Nebenwirkungen, beispielsweise der Sedierung, die zu Komplikationen wie Stürzen oder Aspirationen führen können.
- Die Betroffenen können ausserdem belastende Nebenwirkungen oft nicht ausreichend kommunizieren. Angesichts der Häufigkeit von weiteren Begleiterkrankungen, die ebenfalls medikamentös behandelt werden, gewinnt dies eine besondere Bedeutung. Nicht selten besteht bei diesen Patientinnen und Patienten eine ausgebaute Polytherapie.
Auch epilepsiechirurgische Therapieoptionen sind bei Menschen mit Epilepsie und Behinderung möglich. Jedoch sollen die diagnostischen Verfahren den Grad der Kooperationsfähigkeit respektieren. Neben klassischen, resektiven Eingriffen kommen – aufgrund der Häufigkeit multifokaler oder genetischer Epilepsiesyndrome – Verfahren wie die Kallosotomie oder Stimulationsverfahren in Betracht. Diese ermöglichen zwar in der Regel keine Anfallsfreiheit, jedoch bei guter Auswahl von geeigneten Patientinnen und Patienten eine verbesserte Anfallskontrolle und Lebensqualität (palliative Epilepsiechirurgie). Für die Vagusnervstimulation liegen bereits langjährige Erfahrungen zum Einsatz bei Menschen mit Epilepsie und Behinderung vor.10, 11 Bei der tiefen Hirnstimulation (THS) zeichnen sich Erweiterungen der Indikation ab, zumal erste Studien auf eine Wirksamkeit der Stimulation des Nucleus centromedianus bei dem Lennox-Gastaut Syndrom hinweisen, einer der häufigeren und in der Regel therapierefraktären DEE.12
Integrierte Versorgung am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum
Bei der therapeutischen Begleitung von Personen mit Epilepsie und Behinderung beschränken wir uns nicht auf die Behandlung der Epilepsie, sondern unterstützen auch die Abklärung und ggf. Behandlung von Begleiterkrankungen. Neben somatischen Komorbiditäten (wie etwa Spastik, Osteoporose, rezidivierende Infekte, Schluckstörungen) werden auch häufig psychiatrische Erkrankungen wie Autismus-Spektrum-Störung, ADHS und Verhaltensstörungen beobachtet.13 Daher steht die psychosoziale Unterstützung im Zentrum unserer Bemühungen.
Die Versorgung mit Hilfsmitteln (zum Beispiel Sturzhelme), die Evaluation von Anfallsdetektions- und Warnsystemen und die Unterstützung in sozialen Problemen sind weitere, zentrale Aspekte der Begleitung von Patientinnen, Patienten und ihrem Umfeld.
Das Ziel dieser vielseitigen Facetten an medizinischer Begleitung ist für alle Patientinnen und Patienten die Förderung und der Erhalt von motorischen und kognitiven Fähigkeiten, wo immer möglich und individuell abgestimmt.
Literatur
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Autorin
Oona Kohnen, dipl. Ärztin
Leitende Ärztin
Fachärztin für Neurologie; Fähigkeitsausweis Elektroenzephalographie (SGKN); Fähigkeitsausweis Elektroneuromyographie (SGKN)