Artikel | 08.02.2024

Genetische Abklärung bei Epilepsien im Kindesalter: Immer besser, immer wichtiger.

Die rasante Entwicklung molekulargenetischer Techniken hat zur Entdeckung von vielen, bislang unbekannten Epilepsie-relevanten genetischen Varianten geführt. Heute gilt: Je besser die Phänotypisierung der Epilepsie und je fundierter die Indikation zur genetischen Untersuchung, desto höher die Chance auf einen erklärenden genetischen Befund. Dieser wiederum hat grossen therapeutischen Nutzen.

Genetische Untersuchungen bei Kindern und Jugendlichen mit Epilepsie ermöglichen immer häufiger, die Ursache der Epilepsie zu identifizieren. Die Exom-Sequenzierung beispielsweise kann in bis zu 45 Prozent der Fälle ein erklärendes Ergebnis liefern1. Dagegen liegen die Ergebnisse für Epilepsie-basierte Gen-Panel und für chromosomales Micro-Array deutlich niedriger (5–25 Prozent) und spielen heutzutage kaum mehr eine Rolle.
Entscheidend für die hohe «Trefferquote» der Exom-Untersuchung ist die Qualität der Phänotypisierung und der daraus resultierenden Indikationsstellung. Diese wiederum ist vornehmlich Aufgabe der Epileptologie, die sich somit neben der klinischen auch zunehmend die entsprechende genetische Kompetenz aneignen muss.

Im Folgenden sollen aktuelle, für Klinikerinnen und Kliniker relevante Neuigkeiten aus dem Bereich der Epilepsiegenetik vorgestellt und kommentiert werden.

Wann ist eine genetische Diagnostik bei Kindern mit Epilepsie angezeigt?
Empfehlungen der Internationalen Liga gegen Epilepsie (ILAE) und der Kommission Epilepsie und Genetik der DGFE wurden aktuell veröffentlicht2. Eine genetische Diagnostik ist wird demnach allgemein empfohlen bei Kindern mit Epilepsiebeginn bis zum 5. Lebensjahr und bei Epilepsien aller Altersklassen mit zusätzlich Intelligenzminderung oder Autismus, wenn keine Hinweise auf eine strukturelle ZNS-Erkrankung bestehen. Des Weiteren ist immer eine genetische Diagnostik sinnvoll bei progressiven Myoklonus-Epilepsien, bei familiären Epilepsien sowie im Einzelfall im Rahmen der prächirurgischen Abklärung nicht läsioneller Epilepsien.


Die Bedeutung der genetischen Untersuchung in der prächirurgischen Epilepsie-Diagnostik
Wenn Kinder und Jugendliche mit Epilepsie zur prächirurgischen Diagnostik in unserem Zentrum vorgestellt werden, liegt in den meisten Fällen eine therapieschwierige fokale Epilepsie vor. Nicht in allen Fällen lässt sich dafür ein strukturelles Korrelat im MRI finden. Wir sprechen dann von einer nichtläsionellen oder MR-negativen fokalen Epilepsie. In einer solchen Konstellation sollte eine genetische Diagnostik erwogen werden3. An unserer Klinik konnten wir im Rahmen des prächirurgischen Monitorings mehrere Kinder mit DEPDC5 oder NPLR3-Mutationen identifizieren. Eine sorgfältige Phänotypisierung, der gründliche Ausschluss struktureller Veränderungen mit Hilfe von Postprocessing-Techniken sowie die detaillierte Suche nach multifokalen EEG-Veränderungen waren wegweisend für die Diagnostik.

Exom bezeichnet die kodierenden Bereiche des Genoms. Die Exom-Diagnostik fokussiert sich auf diese rund 1-2 Prozent des menschlichen Genoms. Dort sind 89 Prozent der bekannten krankheitsverursachenden Varianten angesiedelt.

Wenn die Exom-Diagnostik ohne Befund bleibt: Untersuchungen jenseits der klinischen Routine
In der Exom-Diagnostik finden sich häufig Varianten, deren Einordnung schwierig ist. Im Befund ist dann von «VUS» die Rede, einer Variante unklarer Signifikanz. Wenn der klinische Verdacht auf eine Pathogenität besteht, kann ein Transkriptom weiterhelfen, also die Untersuchung auf relevante Veränderungen auf RNA-Ebene. Diese gibt es nicht in der Routine, sondern wird von hochspezialisierten Zentren im Rahmen von Studien angeboten. Die Klinik Lengg kooperiert mit solchen Zentren und kann diese Diagnostik veranlassen.

Wenn die Exom-Diagnostik negativ bleibt, kann je nach klinischem Verdacht eine Untersuchung auf expandierende Repeat-Erkrankungen oder eine Genom-Diagnostik weiterhelfen. Die erst kürzlich beschriebenen Familiären Myoklonus-Epilepsien (FAME) etwa gehören zu dieser Krankheitsgruppe. Die Untersuchung erfolgt ebenfalls auf Studien- und Forschungsbasis und kann durch die Klinik Lengg beauftragt werden.


Was folgt auf die genetische Diagnose?
Wenn eine pathogene Mutation gesichert ist, stellt sich die Frage nach ihrer funktionellen Bedeutung. So können Ionenkanal- oder Rezeptorstörungen sowohl einen Funktionsgewinn als auch einen Funktionsverlust bewirken. Vorhersageprogramme (Beispiel in Referenz 4) können helfen, funktionelle Auswirkungen genetischer Veränderungen genauer zu charakterisieren. Daraus wiederum können wichtige Erkenntnisse für Therapien und Prognose abgeleitet werden. Studien zeigen, dass sich bei bis zu 50 Prozent der Patientinnen und Patienten mit genetisch bestätigter Diagnose klinische Konsequenzen ergeben5, darunter immer häufiger innovative präzisionsmedizinische Behandlungsansätze.

Referenzen

1 Sheidley BR, Malinowski J, Bergner AL, Bier L, Gloss DS, Mu W, et al. Genetic testing for the epilepsies: a systematic review. Epilepsia 2022.
https://doi.org/10.1111/epi.17141

2 Krey I, Platzer K, Esterhuizen A, Berkovic SF, Helbig I, Hildebrand MS, et al. Current practice in diagnostic genetic testing of the epilepsies. Epileptic disorders 2022.
https://doi.org/10.1684/epd.2022.1448

3 Bosselmann CM, San Antonio-Arce V, Schulze-Bonhage A, Fauser S, Zacher P, Mayer T, et al. Genetic testing before epilepsy surgery - An exploratory survey and case collection from German epilepsy centers. Seizure 2022. https://doi.org/10.1016/j.seizure.2021.12.004

4 https://funnc.shinyapps.io/shinyappweb/

5 McKnight D, Morales A, Hatchell KE, Bristow SL, Bonkowsky JL, Perry MS, et al. Genetic Testing to Inform Epilepsy Treatment Management From an International Study of Clinical Practice. JAMA neurology 2022. https://doi.org/10.1001/jamaneurol.2022.3651