Artikel | 31.08.2023

Nächtlicher epileptischer Anfall oder Schlafstörung?

Störungen des Nachtschlafs durch Vokalisation, Schrei, unwillkürliche Motorik bis hin zu komplexen Handlungen können für Personen im selben Bett und für Familienmitglieder befremdlich wirken. Solche Störungen sind möglicherweise Ausdruck einer Erkrankung und eine Abklärung im Schlaflabor ist häufig sinnvoll.

Die Differenzialdiagnose von plötzlich und isoliert auftretenden, nächtlichen motorischen Episoden stellt eine besondere Herausforderung dar und lässt sich auf Basis einer Anamnese oder Fremdanamnese alleine häufig nicht klären. Es könnte sich hierbei um eine Parasomnie handeln, beispielsweise Schlafwandeln oder Zuckungen beim Einschlafen, also ein auffälliges Verhalten (meist unangenehm oder unerwünscht), das sich ausschliesslich in Verbindung mit dem Schlaf manifestiert und manchmal auch den Schlaf unterbricht. Alternativ kann eine unerwartete nächtliche Motorik auch Ausdruck von epileptischen Anfällen sein. Bei Erstmanifestation bzw. ohne bestehende Diagnose ist in der Regel eine weitere Abklärung und ggf. Behandlung erforderlich.

Videoaufnahmen begünstigen Diagnostik
Es gibt zahlreiche klinische Merkmale, die zur Differenzierung von Anfällen und Parasomnien hilfreich sein können.1 Eine definitive Zuordnung ist aber nur in seltenen Fällen auf Basis von solchen Checklisten (Zeitpunkt während der Nacht, Familienanamnese, Erinnerung an das Geschehen, Verletzungshäufigkeit usw.) möglich. Eine wertvolle Ergänzung zur fremdanamnestischen Beschreibung sind Videoaufnahmen der Ereignisse durch Angehörige. Solche Heimvideoaufnahmen sollten bei offener diagnostischer Zuordnung dringend empfohlen werden, da bei niedriger Ereignishäufigkeit eine Aufzeichnung während einer Hospitalisation entsprechend unwahrscheinlich wird. Seit Jahrzehnten bilden Videoaufnahmen eine wichtige Grundlage der epileptologischen Diagnostik. Hier leistet die ubiquitäre Verfügbarkeit von spontanen Videoaufnahmen (Handyvideos) einen wertvollen Beitrag.

Schlafbezogene hypermotorische Epilepise
Anfälle, die im Frontallappen entstehen, treten häufig oder gar ausschliesslich im Schlaf auf. Seit 2014 wird der Begriff SHE (Sleep-related Hypermotor Epilepsy) eingesetzt, um nächtlichen Anfällen mit einem Anfallsursprung auch ausserhalb des Frontallappens Rechnung zu tragen.2 Solche nächtlichen Anfälle können mit einer bizarren Semiologie auftreten, die eine gesteigerte Motorik, Vokalisation oder Schrei sowie komplexe und mitunter repetitive Automatismen beinhalten. Untersuchungen mittels Bildgebung und Oberflächen-EEG sind bei diesen Anfällen oft nicht wegweisend, insbesondere bei der nächtlichen Frontallappen-Epilepsie, für die eine genetische Ätiologie besteht (ADNFLE, autosomal dominante, nächtliche Frontallappen-Epilepsie). Aufgrund der teils bizarren und eindrücklichen, klinischen Symptome entstehen häufig Fehlinterpretationen mit der Annahme, es handele sich um eine Parasomnie oder um einen nicht-epileptischen Anfall. Da andererseits Parasomnien ebenfalls mit hypermotorischen Symptomen einhergehen können, besteht wiederum die Gefahr einer Fehldiagnose als nächtliche Frontallappenanfälle.

Eine Aufzeichnung mittels nächtlichem, polygraphischem Video-EEG im Schlaflabor gilt allgemein als Goldstandard zur Diagnosestellung. Dabei werden neben dem EEG mit vollem Elektrodensatz (internationales 10-20-EEG-System) auch kardiorespiratorische Parameter, Bewegungen, EMG (Muskelspannung) und eine Infrarotvideoaufzeichnung festgehalten. Eine klinische Einschätzung lässt sich dabei mittels Befragung zum Bewusstsein, allfälligem Traumerleben und zur Erinnerung an das Ereignis standardisiert erheben. Die neurologische und schlafmedizinische Untersuchung zielt bei epileptischen Anfällen zunächst darauf, die Diagnose zu sichern, und sodann die weitere Frage nach der adäquaten Behandlung zu klären. Eine medikamentöse antiepileptische Therapie führt hier häufig zu Anfallsfreiheit, wobei eine Überprüfung dieses Therapieerfolgs bei Bedarf im Schlaflabor verifiziert werden kann.

Tagesmüdigkeit, die unerwartet auftritt, könnte ein Anzeichen für nächtliche epileptische Anfälle sein.

Verhaltensauffälligkeiten im Schlaf (Parasomnien)
Typische Parasomnien gehen häufig nicht mit einem signifikanten Leidensdruck einher, es sei denn, die nächtlichen Episoden führen zu Verletzungen der Betroffenen oder einer Person, die sich im selben Bett befindet. Dies kann beim Schlafwandeln oder der REM-Schlaf-Verhaltensstörung der Fall sein. Auch sind Parasomnien in der Regel nicht mit häufigen Störungen der Schlafkontinuität verbunden und führen damit nicht unbedingt zu Befindlichkeitsstörungen während des Wachzustands bzw. zu Tagesmüdigkeit.

Bei entsprechender Häufigkeit der Störung ist hingegen eine Behandlung der nächtlichen Episoden ebenfalls angebracht. Dabei muss berücksichtigt werden, dass Parasomnien Ausdruck einer zugrundeliegenden Somnopathie sein können und diese entsprechend erkannt und behandelt werden muss, um eine Symptomfreiheit zu erreichen. Sowohl schlafbezogene Atemstörungen (Schlafapnoe) als auch nächtliche Bewegungsstörungen können Parasomnien provozieren.3 Die Diagnose Parasomnie sollte in diesen Fällen zu der Behandlung der somnologischen Störungsbilder führen, da in der Regel etablierte und gut umsetzbare Behandlungsansätze für diese bestehen.


Referenzen

  1. Boursoulian LJ, et al. J Clin Sleep Med. 2012 Feb 15;8(1):108-12. doi:10.5664/jcsm.1676.
  2. Tinuper P et al. Definition and diagnostic criteria of sleep-related hypermotor epilepsy. Neurology, May 2016, 86 (19) 1834-1842.
    doi:10.1212/WNL.0000000000002666
  3. Guilleminault C, Sleepwalking and Sleep Terrors in Prepubertal Children: What Triggers Them? Pediatrics (2003) 111 (1): e17–e25.
    doi:10.1542/peds.111.1.e17