Artikel | 31.08.2023

Nehmen Ihre Patientinnen und Patienten soziale Emotionen richtig wahr?

Beeinträchtigungen der sozialen Kognition sind für die Lebensqualität wesentliche, aber häufig unterdiagnostizierte Begleitsymptome neurologischer Erkrankungen und psychiatrischer Störungen. Die Web-App COSIMO ist ein Screeningverfahren, mit dem sozial-kognitive Fähigkeiten in wenigen Minuten getestet werden können.

Die meisten unserer Handlungen sind von sozialen Bedürfnissen und Motiven geleitet, soziale Beziehungen prägen unseren Alltag. Gelingende soziale Teilhabe in Familie, Schule und Beruf ist der wichtigste Faktor für eine hohe Lebensqualität (Helliwell & Putnam, 2004; Thoits, 2011). Dass neurologische und psychiatrische Störungen die Fähigkeit zu gelingendem, reziprokem Sozialverhalten negativ beeinflussen können, wird in der klinischen Diagnostik leider noch häufig vernachlässigt.

Soziale Kognition als klinisch-neurowissenschaftliches Konzept
Der Begriff der sozialen Kognition beschreibt Fähigkeiten, sich selbst, die soziale Umwelt und die Beziehungen zu anderen mental zu repräsentieren und das Verhalten dem Kontext angemessen zu regulieren. In der neuropsychologischen Diagnostik und Forschung sind neben der Empathie insbesondere die Konstrukte der «Theory of Mind» und der Emotionserkennung von Bedeutung (Broicher et al., 2012). Letztere umfasst die Zuordnung von Basisemotionen zu basalen sozial-kognitiven Hinweisreizen, während die Theory of Mind die Fähigkeit umfasst, mentale Zustände wie Intentionen, komplexere Emotionen, Gedanken und Motivationen anderer richtig einzuschätzen und zu antizipieren.

Sozialkognitive Fähigkeiten sind abhängig von interagierenden, weit verteilten subkortikal-kortikalen Netzwerken (Abu-Akel & Shamay-Tsoory, 2011; Dricu & Frühholz, 2016; Fusar-Poli et al., 2009). Daher ist es nicht verwunderlich, dass Defizite in der sozialen Kognition bei vielen neurologischen und psychischen Störungen auftreten können (Cotter et al, 2018). Die Bedeutung der sozialen Kognition in der klinischen Praxis wird mittlerweile auch dadurch legitimiert, dass sie als eine von sechs Kernfunktionen Eingang in die Diagnostik neurokognitiver Störungen des DSM-5 gefunden hat und damit Teil des Pflichtenheftes einer umfassenden Untersuchung auf das Vorliegen einer neurokognitiven Störung geworden ist (Falkai et al., 2018).

Trotz der Relevanz der sozialen Kognition für die klinische Praxis gibt es bisher nur wenige Ansätze zur Entwicklung entsprechender Testverfahren. Es mangelt an standardisierten, einfach anwendbaren, leicht zugänglichen, zeitökonomischen und validierten Testverfahren (Eicher & Jokeit, 2022).

Beispiel aus dem Web-App-basierten Test COSIMO (Cognition of Social Interaction in Movies), entwickelt von Forschenden des Schweizerischen Epilepsie-Zentrums an der Klinik Lengg und der Universität Zürich.

COSIMO: Der Screening-Test zur sozialen Kognition
Basierend auf 20 Jahren Erfahrung in der Diagnostik und funktionellen Bildgebung der sozialen Kognition bei neurologischen Patientinnen und Patienten entwickelt unsere Forschungsgruppe am Schweizerischen Epilepsie-Zentrum den Web-App-basierten Test Cognition of Social Interaction in Movies (COSIMO). Der Test misst die Fähigkeit zur komplexen Emotionserkennung von dyadischen Interaktionen in kurzen Filmausschnitten. Das Testformat erlaubt eine schnelle und einfache Durchführung in ca. fünf Minuten und eine sofortige Analyse und Rückmeldung der Ergebnisse. COSIMO ist online über den Browser zugänglich und damit ohne zusätzlichen Aufwand auf allen digitalen Endgeräten nutzbar. Die alltagsnahen Teststimuli stammen aus professionell produzierten Filmen und Serien verschiedener internationaler Streamingdienste. Die Normgruppe von über 200 deutschsprachigen Teilnehmenden ermöglicht bereits heute ein schnelles Screening der sozialen Kognition. Die laufende Validierung bestätigt eine hohe Sensitivität bei zufriedenstellender Spezifität und geringer Korrelation mit der Intelligenz.

Unter den neurologischen Patientinnen und Patienten sind es insbesondere diejenigen mit einer Temporallappenepilepsie, die auch häufiger Schwierigkeiten haben, den emotionalen Status einer Person korrekt zu erkennen. Dies ist nicht verwunderlich, da die Erkrankung limbische und temporolaterale Strukturen betreffen kann, die für die soziale Kognition wichtig sind. Ein weiterer Risikofaktor ist der Beginn der Epilepsie in der Kindheit. Unsere vorläufigen Untersuchungen zeigen dagegen, dass Menschen mit Morbus Parkinson ein geringeres Risiko für Beeinträchtigungen der sozialen Kognition aufweisen.

Auch wenn validierte Trainings- und Therapieprogramme zur sozialen Kognition bislang fehlen, ist ihre Diagnostik nicht sinnlos, denn Aufklärung und Beratung der Betroffenen und insbesondere ihrer Angehörigen, Partner, Freunde und Kollegen können latenten Missverständnissen und Konflikten entgegenwirken und Enttäuschungen über nicht erfüllte implizite Interaktionserwartungen reduzieren.

Die Entwicklung von COSIMO folgt den Prinzipien von Non-Profit und Open Science und wird von gemeinnützigen Stiftungen wie der Schweizerischen Epilepsie-Stiftung und anderen grosszügig unterstützt.

COSIMO Web-App

Kostenloser Zugang und weitere Informationen.

Learn More Learn More

Literatur

Abu-Akel, A., & Shamay-Tsoory, S. (2011). Neuroanatomical and neurochemical bases of theory of mind. In Neuropsychologia (Bd. 49, S. 2971–2984). Elsevier Ltd. https://doi.org/10.1016/j.neuropsychologia.2011.07.012

Broicher, S. D., Kuchukhidze, G., Grunwald, T., Krämer, G., Kurthen, M., & Jokeit, H. (2012). «Tell me how do I feel» - Emotion recognition and theory of mind in symptomatic mesial temporal lobe epilepsy. Neuropsychologia, 50, 118–128. https://doi.org/10.1016/j.neuropsychologia.2011.11.005

Cotter, J., Granger, K., Backx, R., Hobbs, M., Looi, C. Y., & Barnett, J. H. (2018). Social cognitive dysfunction as a clinical marker: A systematic review of meta-analyses across 30 clinical conditions. Neuroscience and Biobehavioral Reviews, 84, 92–99. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2017.11.014

Dricu, M., & Frühholz, S. (2016). Perceiving emotional expressions in others: Activation likelihood estimation meta-analyses of explicit evaluation, passive perception and incidental perception of emotions. Neuroscience and biobehavioral reviews, 71, 810–828. https://doi.org/10.1016/j.neubiorev.2016.10.020

Eicher, M., & Jokeit, H. (2022). Toward social neuropsychology of epilepsy: a meta-analysis on social cognition in epilepsy phenotypes and a critical narrative review on assessment methods. Acta Epileptologica, 4(1). https://doi.org/10.1186/s42494-022-00093-1

Falkai, P., Wittchen, H.-U., Döpfner, M., Gaebel, W., Maier, W., Rief, W., Saß, H., Zaudig, M., & American Psychiatric Association. (2018). Diagnostisches und Statistisches Manual Psychischer Störungen DSM-5®. https://doi.org/10.1026/02803-000

Fusar-Poli, P., Placentino, A., Carletti, F., Landi, P., Allen, P., Surguladze, S., Benedetti, F., Abbamonte, M., Gasparotti, R., Barale, F., Perez, J., McGuire, P., & Politi, P. (2009). Functional atlas of emotional faces processing: A voxel-based meta-analysis of 105 functional magnetic resonance imaging studies. In Journal of Psychiatry and Neuroscience (Bd. 34, S. 418–432). https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19949718

Helliwell, J. F., & Putnam, R. D. (2004). The social context of well-being. Philosophical transactions of the Royal Society of London. Series B, Biological sciences, 359, 1435–1446. https://doi.org/10.1098/rstb.2004.1522

Thoits, P. A. (2011). Mechanisms linking social ties and support to physical and mental health. Journal of health and social behavior, 52, 145–161. https://doi.org/10.1177/0022146510395592